GOTISCHE LESUNGEN —

MEINE GOTISCHEN LESUNGEN versuchen, einen kleinen Beitrag zur Rekonstruktion der Aussprache des Gotischen zu leisten. Daneben wollen sie natürlich als Kunstwerk verstanden sein. Sie sollen in unregelmäßigen Abständen erscheinen und sich zumindest für den Anfang auf die Wiedergabe der gotischen Bibel beschränken. Den Auftakt bildet das erste Kapitel des Lukasevangeliums.

Zuvor jedoch will ich noch kurz meinen Standpunkt im Diphthong-Streit1 darlegen. Umstritten ist ja bekanntlich die Aussprache der gotischen Digraphen „ai“ und „au“ zur Zeit Wulfilas. Vor allem in der älteren Forschung hielt man sie nur in kurzen Silben für Monophthonge [ɛ, ɔ], in langen dagegen für Diphthonge [ai̯, au̯]2. Die Gegenansicht, die zunehmend Verbreitung gefunden hat, betrachtet sie auch in langen Silben als Monophthonge [ɛː, ɔː]3. Meine bescheidne These nun lautet, dass es sich dabei weder um Di- noch um Monophthonge handelt, sondern schlicht um Halbdiphthonge – dass also „ai“ weder als [ai̯] noch als [ɛː] gesprochen wird, sondern vielmehr als [ɛi̯] oder eher [ɛe̯]. Dementsprechend wird „au“ [ɔu̯] oder eher [ɔo̯] ausgesprochen.4 Dass die Digraphen in kurzen Silben dennoch als Monophthonge klingen, liegt einfach daran, dass ein Halbdiphthong sich nur schlecht schnell sprechen lässt und deshalb in kurzen Silben leicht zum Monophthong wird (vgl. engl. „to say“, aber „said“). Dass die jeweiligen Laute aber eigentlich als Halbdiphthonge gedacht sind, erklärt, warum Wulfila zu ihrer Darstellung die einheitliche Schreibweise „ai, au“ gewählt hat.

 

1. Lesung: Lukas I

Hören Sie im Folgenden – auf gotisch und mit gotischen Untertiteln –, wie der Erzengel Gabriel dem alten Priester Zacharias die Geburt von dessen Sohn Johannes, dem späteren Täufer, voraussagt (was Zacharias kaum glauben mag und darob einstweilen mit Stummheit geschlagen wird), wie der Engel sodann der erstaunten Maria die Geburt Jesu verkündet, und wie schließlich nach Johannes’ Geburt Uneinigkeit über dessen Namen herrscht:

Die Hintergrundmusik stammt von der CD „Frühe Gesänge der Bulgarisch-Orthodoxen Kirche“ und wird mit freundlicher Genehmigung der Cantica Musik- und Konzertproduktion verwendet.

 


Exkurs: Langobardisch und Althochdeutsch — Das Hildebrandslied

Gleich meine zweite Lesung besteht schon in einem kurzen Auflug in zwei westgermanische Idiome: Das Althochdeutsche, Vorläufer unserer heutigen deutschen Standardsprache, und das Langobardische, einen voralthochdeutschen Dialekt – beides dargestellt am Beispiel des Hildebrandsliedes. Die im Video verwendete Rekonstruktion von dessen langobardischer Urfassung entstammt dem Buch „Das Westgermanische“ von Wolfram EULER, einer kürzlich erschienenen, umfassenden Grammatik der westgermanischen Protosprache (des gemeinsamen Vorläufers des Deutschen, Englischen und Niederländischen).

Der althochdeutsche Text des Hildebrandsliedes wird hier in seiner überlieferten Fuldaer Fassung wiedergegeben. Davon unterscheidet sich der bereinigte Text Georg BAESECKES, den Sie auszugsweise hier finden. Einen gänzlich anderen langobardischen Rekonstruktionsversuch unternahm 1959 Willy KROGMANN; eine auszugsweise künstlerische Umsetzung dessen finden Sie hier.

 


2. Lesung: Lukas II, 1–20 — Die Weihnachtsgeschichte

Hören Sie nun im Anschluss an meine erste Lesung, wie die römische Finanzverwaltung das besetzte Israel aufscheucht und wie unter widrigen Umständen ein Kind zur Welt kommt, von dessen ungeahnter Bedeutung als erstes die Hirten erfahren:

Die Musik im Vor- und im Abspann stammt von der CD „Transeamus · Schlesische Weihnachtslieder“ und wird mit freundlicher Genehmigung der Membran Entertainment Group GmbH verwendet. Die Verwendung der Hintergrundbilder erfolgt gemäß deutschem und US-amerikanischem Urheberrecht. Besonders danke ich Joseph F. BRICKEY, mit dessen Erlaubnis ich die Bilder „Verkündigung an die Hirten“ und „Ein Heiland ist geboren“ (beide ©2000) zeige, sowie Walter RANE, der sein Gemälde „Siehe das Lamm Gottes“ zur Verfügung gestellt hat.

 

1 S. dazu Frank HEIDERMANNS in Wilhelm Braune (Begr.)/ders., Gotische Grammatik, 20. Aufl. Tübingen 2004, § 21 Anm. 2 f. m.w.N.; William BENNETT, The Monophthongization of Gothic ái áu, Language Bd. 25 Nr. 1 (Jan.–März 1949), S. 15 ff.

2 So etwa Wilhelm STREITBERG, Gotisches Elementarbuch, 3./4. Aufl. Heidelberg 1910, § 34 Nr. 7.

3 So HEIDERMANNS § 21; BENNETT a.a.O.

4 Ähnl. schon Eric HAMP, Gothic ai and au, Modern Language Bd. 71 Nr. 4 (April 1956), S. 256 (269).